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Neunter Planet wurde noch nie gesehen – doch Forscher glauben, dass es ihn gibt - FOCUS Online

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Gibt es den Planeten IX im Sonnensystem tatsächlich? Und wenn ja: Woraus besteht er, und wo hält er sich verborgen? Darüber rätseln die Astronomen schon lange. Zwar wurde es zwischendurch recht still um den hypothetischen neunten Trabanten unserer Sonne. Doch in jüngster Zeit brachten einige neue Theorien über seine Beschaffenheit die Debatte wieder in Fahrt.

Begonnen hatte sie in den 70er-Jahren. Damals folgerte der US-Astronom Tom van Flandern anhand von Bahnstörungen der Planeten Uranus und Neptun, es müsse einen zehnten Planeten geben (damals wurden noch zehn Planeten gezählt. Doch Pluto wurde später der Planetenstatus aberkannt).

Fünfmal so groß wie die Erde, dreimal so weit weg wie der Neptun?

Er sollte auf einer hoch elliptischen Bahn kreisen, die ihn weit aus der Ebene der Ekliptik der gemeinsamen Umlaufebene der großen Planeten herausführt, bei einer Umlaufperiode von 1019 Jahren. Damit wäre er dreimal so weit von unserem Zentralgestirn entfernt wie der äußerste Planet Neptun. Dessen Distanz zur Sonne beträgt 4,5 Milliarden Kilometer oder rund 30 Astronomische Einheiten (AE; 1 AE entspricht dem Abstand Erde – Sonne von 150 Millionen Kilometer).

Der Astronom John Anderson vom Jet Propulsion Laboratory (JPL) im kalifornischen Pasadena kam 1987 zu einem ähnlichen Resultat. Sein Planet X besaß die fünffache Erdmasse, eine Umlaufperiode von 700 bis 1000 Jahren und einen ebenfalls stark geneigten Orbit.

Später erhielt die Hypothese neuen Schub: Die US-Astronomen Mike Brown, Chad Trujillo und David Rabinowitz spürten 2003 im Kuipergürtel so heißt die Region, die als äußerste Grenze des Sonnensystems gilt ein außergewöhnliches Objekt auf: den 1000 Kilometer großen Zwergplaneten Sedna. Er folgt einer bemerkenswerten Bahn. Ihr sonnennächster Punkt liegt bei 76 AE, der sonnenfernste bei 1000 AE; ein Umlauf dauert über 10.000 Jahre.

In den Folgejahren fanden sich fünf weitere Kuipergürtel-Objekte (KGO) auf ähnlich extremen Orbits. Im Jahr 2014 bemerkten Trujillo und sein Kollege Scott Sheppard, dass ihre Bahnen in einigen Aspekten auffällig übereinstimmen. So durchlaufen sie bei ihrer dichtesten Annäherung an die Sonne die Ebene der Ekliptik und bewegen sich dabei von Süd nach Nord. Diese Eigenart, folgerten Trujillo und Sheppard, könnte auf ein Objekt zurückgehen, das 250 AE tief im Raum steht und größer ist als die Erde.

Es gibt zwei Kandidaten

Zwischenzeitlich hatte auch der brasilianische Astronom Rodney Gomes die Existenz eines weiteren Planeten postuliert. Er analysierte die Bahnen von 92 KGO. Bei sechs davon fand er Abweichungen, die sich am besten durch die Gravitation eines unbekannten Objekts erklären ließen. Computermodellen zufolge sollte es viermal größer sein als die Erde, also etwa so groß wie Neptun, und 1500-mal weiter von der Sonne entfernt. Laut Gomes könnte es sich um einen extrasolaren Trabanten handeln, der ursprünglich einen anderen Stern umkreiste. Als dieser an der Sonne vorbeiflog, zog sie den Planeten mit ihrer Schwerkraft in unser System.

Im Jahr 2016 untersuchten die Astronomen Konstantin Batygin und Mike Brown vom California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena die von Trujillo und Sheppard beobachteten KGO erneut. Dabei fanden sie heraus, dass deren Bahnen auf einen bestimmten Raumpunkt weisen.  Daraus schlossen sie, dass die Schwerkraft eines Trabanten die Eiskörper anzieht, der zehnmal schwerer als die Erde und zwanzigmal weiter entfernt als Neptun sein müsse. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies ein Zufall ist, liege bei 0,007 Prozent.

Im gleichen Jahr machte ein Bericht von Forschern Furore, die verkündeten, sie hätten mit der Radioteleskop-Anlage Alma in Chile gleich zwei Kandidaten für einen neunten Planeten aufgespürt. Einen davon tauften sie „Gna“, nach einer Ase der nordischen Mythologie. Er steht im Sternbild Adler. Der zweite Kandidat befindet sich in scheinbarer Nachbarschaft zu Alpha Centauri, dem sonnennächsten Sternsystem.

„Mit fünf Erdmassen erinnert er an Supererden, die es in fremden Sternsystemen gibt“

Bei Gna könnte es sich um einen 220 bis 880 Kilometer großen Asteroiden handeln, der zwischen Saturn und Uranus kreist – oder um einen Planeten von der Größe Neptuns, der 100-mal weiter entfernt ist. Es könnte aber auch ein gänzlich anderer Körper sein – nämlich ein „Brauner Zwerg“ von der Größe Jupiters, der im interstellaren Raum vorüberzieht. Das gleiche gilt für das Objekt bei Alpha Centauri.

Vielleicht beruht die Beobachtung aber auf einem Artefakt, hervorgerufen durch eine zufällige Fluktuation im Datenstrom von Alma. Der Caltech-Astronom Brown führt ein statistisches Argument dafür an: Wäre Alma in einem winzigen Himmelsausschnitt per Zufall tatsächlich auf ein massereiches Objekt gestoßen, müsste es dort draußen etwa 200.000 erdgroße Planeten geben. Sie würden das gesamte Sonnensystem destabilisieren – und wir würden alle sterben.

Im vergangenen Jahr korrigierten Brown und sein Kollege Batygin ihre früheren Berechnungen der KGO-Bahnen. Aufgrund neuer Daten kamen sie zu dem Schluss, dass Planet Neun nur die fünffache Erdmasse aufweist und viel näher an der Sonne steht als gedacht, wobei er sich im Umkreis des Sternbilds Orion tummelt. „Mit fünf Erdmassen erinnert er an Supererden, die es in fremden Sternsystemen gibt“, erklärt Batygin.

Die Fachwelt diskutiert

Was aber, wenn statt eines großen Objekts viele kleine die Bahnen der fernen Eiswelten beeinflussen? Darauf setzen die Astronomen Jihad Touma von der American University of Beirut und Antranik Sefilian von der britischen Universität Cambridge. In einer 2018 erschienenen Studie legen sie dar, dass eine große Zahl von Körpern, die sich in einem flachen Ring im Kuipergürtel bewegen und insgesamt bis zu zehn Erdmassen schwer sind, einen ähnlichen Effekt hätten wie ein großer Planet. Entsprechend könnten sie die Bahnen von KGO beeinflussen.

Wiederum gibt es Einwände von Fachkollegen. Die im Ring angeordneten Eiskörper würden die bisher geschätzte Gesamtmasse der KGO um das 100- bis 500-fache übertreffen, argumentieren sie. Auch sei es rätselhaft, wie ein solcher Ring überhaupt entstanden sein sollte.

Noch ist also offen, ob Planet Neun wirklich existiert. Gesehen hat ihn jedenfalls noch niemand, was einen besonderen Grund haben könnte: Möglicherweise ist das gesuchte Objekt gar kein Planet, sondern ein sogenanntes primordiales Schwarzes Loch. Diese Art von Schwarzen Löchern ist theoretischen Erwägungen zufolge im Urknall entstanden. Sie sind etwa so groß wie ein Tennisball und füllen das All in großer Zahl. Womöglich kam eines davon der Sonne zu nahe und wurde von ihrer Schwerkraft eingefangen.

Neues Spiegelteleskop könnte Planet künftig sichtbar machen

Diese Idee ersannen die Astrophysiker Jakub Scholtz von der britischen Durham University und James Unwin von der University of Illinois aufgrund mehrerer Anomalien, die sich in den Daten des Optical Gravitational Lensing Experiment (OGLE) fanden. Es sucht bei weit entfernten Sternen und Galaxien nach Helligkeitsschwankungen durch den sogenannten Gravitationslinseneffekt.

Er tritt auf, wenn eine große Masse aufgrund der von ihr verursachten Raumkrümmung das Licht eines dahinter stehenden Körpers wie eine Linse fokussiert. OGLE fand bereits eine Reihe solcher Linsen, die offenbar innerhalb der Milchstraße liegen. Die „linsenden“ Objekte haben ungefähr die fünffache Masse der Erde. Ihre Natur ist unklar, doch eine Möglichkeit wären eben primordiale Schwarze Löcher. Nur: Im sichtbaren und infraroten Licht sind diese unsichtbar, deshalb ist die Suche nach der Schwerkraftquelle weit draußen im Sonnensystem mit Teleskopen zum Scheitern verurteilt.

Allerdings ließe sich das Schwerkraftmonster indirekt entdecken – nämlich mit dem neuen Vera C. Rubin Observatory in Chile, das 2022 in Betrieb gehen soll. Mittels eines raffinierten Spiegelsystems kann es das Firmament in drei Nächten komplett fotografieren. Wie Astronomen der Harvard-Universität herausfanden, könnte es Objekte nachweisen, die in das Schwarze Loch gerissen werden und dabei aufglühen.

Suche am Firmament ist extrem zeitintensiv

Wie real sind aber nun die Aussichten, Planet Neun tatsächlich zu finden? „Sehr gut; ich glaube, es dürfte in den kommenden Jahren soweit sein“, sagt der österreichische Informatiker und Wissenschaftsautor Marcus Stöger. „Daß wir ihn bis jetzt noch nicht gefunden haben, liegt daran, daß er paradoxerweise sowohl zu nahe als auch zu weit weg ist: So weit, daß er sich bei seiner langsamen Bewegung kaum von zahllosen anderen Hintergrundobjekten unterscheidet; und so nahe, daß er fast überall am Firmament sein könnte – was die Suche enorm zeitintensiv macht.“

Stöger veröffentlichte jüngst ein Buch („Planet Neun“; FinanzBuch Verlag, München), in dem er den neuesten Stand der Wissenschaft darlegt. Die ausschlaggebenden Hinweise, meint er, kämen von KGO, die auf ebenso auffälligen wie ähnlichen Bahnen kreisen: langgezogen, eigenwillig gegen die Ekliptik geneigt und quasi in eine Richtung weisend. Dies ließe sich nur mit der Existenz eines fernen Objektes erklären, das mindestens viermal so schwer ist wie die Erde und in jeweils 10.000 Jahren die Sonne umkreist.

„Am ehesten handelt es sich um einen kompakten Gas- oder einen massiven Gesteinsplaneten“

Ein Brauner Zwerg, als ehemaliger Sonnenzwilling, oder ein primordiales Schwarzes Loch seien „lustige Ideen, die man zwar nicht ausschließen kann, aber die Wahrscheinlichkeit ist vernachlässigbar“, so Stöger weiter. „Am ehesten handelt es sich um einen kompakten Gas- oder einen massiven Gesteinsplaneten, der womöglich als Wanderplanet einst von der Gravitation unserer Sonne eingefangen wurde.“

Mittlerweile suchen Astronomen mit großen Teleskopen nach ihm – und vielleicht haben sie ihn sogar schon unwissentlich gefunden. Denn er könnte sich in den Datenmassen des Pan-STARRS-Observatoriums in Hawaii befinden, das den Sternenhimmel kontinuierlich beobachtet, oder in denen des Weltraumteleskops TESS, die aber beide noch nicht ausgewertet wurden. Dies steht indes für jeden offen: Interessenten können auf dem Internetportal „Zooniverse“ nach einem Lichtpunkt im äußeren Sonnensystem suchen, der sich von einem Bild zum anderen verschiebt. Deshalb kann im Prinzip jeder den neunten Planeten unserer Sonne entdecken, was möglicherweise gerade in dieser Sekunde geschieht.




August 18, 2020 at 04:46PM
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